#12 Schreib jetzt ... zu Hause: Endlich schreibsüchtig!
22. Juni 2020, von Mascha Jacoby
Foto: Pexels/Andrea Piacquadio
Wissenschaftliches Schreiben ist komplex und für die meisten von uns herausfordernd. Das kann dazu führen, dass man Schreibprojekte nicht angehen möchte, sie aufschiebt oder sich blockiert fühlt. Das ist menschlich, muss aber nicht kampflos hingenommen werden. Denn es gibt erprobte Methoden, um (meistens) schreiben zu wollen – und weniger das Gefühl zu haben, schreiben zu müssen. Wie also kann man eine Schreibsucht kultivieren?
In den Schreibfluss kommen
Die Grundvoraussetzung für eine Schreibsucht sind Schreibflüsse. Häufig zensieren wir uns beim Schreiben selbst, unterbrechen uns dadurch und bringen uns aus dem Fluss – das kann frustrierend sein und Schreiben mühsam machen. Die Methoden „Freewriting“ und „Fokussiertes Freewriting“ können Abhilfe schaffen, weil sie helfen, sich anfänglich von hohen Ansprüchen zu verabschieden und erst mal zügig imperfekte Rohtexte zu produzieren. Dafür lassen wir bei der klassischen Variante die Gedanken gänzlich frei fließen und halten sie schriftlich fest. Bei der „fokussierten“ Variante lenken wir den Gedanken- und Schreibfluss auf einen Fokus, z. B. auf eine Frage oder ein Thema, in dessen Bereich sich die Gedanken frei entwickeln dürfen – Freischreiben angeleint sozusagen. Egal, ob gänzlich „frei“ oder „fokussiert“: Wir schreiben im besten Fall ununterbrochen, streichen nichts durch, halten im Fluss auftauchende Fragen und Unsicherheiten fest und machen uns erst mal keine Gedanken über z. B. Struktur oder Fehlerfreiheit des Textes. So kann Schreiben anfangen, Spaß zu machen. Denn wir erlauben uns, im ersten Schritt etwas fließend zu Papier zu bringen, das (noch) voller Lücken, Fragen, Fehler sein und – allgemein – Überarbeitungsbedarf haben darf.
Schreibräusche erleben
Bei diesem Freischreiben bzw. freieren Schreiben kann Magisches passieren, das sich jedoch wissenschaftlich erklären lässt. Die rechte Gehirnhälfte wird stärker aktiviert, die verantwortlich für kreatives, assoziatives und intuitives Denken ist. Dadurch können uns Ideen kommen, derer wir uns vorher nicht bewusst waren, und Zusammenhänge klar werden, die uns bei angestrengtem Grübeln verwehrt blieben – es kann also Geistesblitze gewittern und plötzlich im Kopf alles Sinn machen. Zudem hat Freischreiben während definierter Schreibzeiten etwas Meditatives: Für einen machbaren kurzen Zeitraum von beispielsweise 15 oder 20 Minuten konzentriert man sich nur aufs Schreiben und ist verbunden mit dem Moment. All das kann enorm produktiv und befriedigend sein – und auf Dauer süchtig machen.
Schreiben als Lösung
Schriftstellerinnen und Schriftsteller berichten manchmal von der selbsttherapeutischen Funktion von Schreiben. Maxim Biller sagte einmal, dass er schreibe, weil er sonst verrückt würde. Schreiben kann uns vorübergehend – aber dafür immer wieder – von einem um dieselben Gedanken kreisenden Geist befreien: z. B. dadurch, dass wir belastende Gedanken beim Tagebuch-Schreiben festhalten und danach besser loslassen können. Oder dadurch, dass wir beim Schreiben Probleme reflektieren und dann möglicherweise lösen oder zumindest besser verstehen und akzeptieren können. Oder dadurch, dass wir uns ganz auf eine komplexe Schreibaufgabe konzentrieren und störende Gedanken dabei in den Hintergrund rücken. Eine Schreibsucht kann also mit einem Perspektivwechsel beginnen: dadurch dass wir Schreiben als Lösung betrachten – und nicht als Problem.
Das gute Gefühl nach eingehaltenen Schreibzeiten
Um eine „writing addiction“ zu kultivieren, sollte man regelmäßig schreiben. Wenn man sich angewöhnt hat, an vier bis sechs Tagen in eingeplanten dezidierten Zeiten zu schreiben, stelle sich laut der Schreibexpertin Joan Bolker ein schlechtes Gefühl ein, wenn man an einem dafür vorgesehenen Tag das Schreiben schwänzt – im Gegenteil zum guten Gefühl, etwas geschafft zu haben, das sich bei vielen nach eingehaltenen Schreibzeiten einstellt. Bolker deutet also das schlechte Gewissen nach nicht vollbrachten Schreibplänen als positiv konnotierte Schreibsucht um. Demnach gilt es, das innere Strebertum in sich zu akzeptieren und um seiner selbst willen umzusetzen, was man sich vorgenommen hat.
Schreiben als Privileg
Schreibsucht – oder wer es lieber positiv behaftet mag: Schreiblust – kann auch geweckt werden, indem man nicht länger schreibt, als man sich vorgenommen hat. Der Psychologe Gerd Gigerenzer erlaubt sich z. B. täglich insgesamt nicht länger als 4 Stunden zu schreiben. Dadurch fällt es ihm leichter, während dieses begrenzten Zeitraums konzentriert an seinen Zielen zu arbeiten. Die Zeitbegrenzung hat einen weiteren Vorteil: Wenn man sich nach der festgelegten Schreibzeit zwingt aufzuhören – egal, wie gut es gerade läuft –, kann dies die Lust steigern, am nächsten Tag weiterzuschreiben. So kann man sich Schreiben als eine Art Privileg umdeuten, als etwas, das man tun darf und auf das man sich freut.
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