Ganz ohne physische Präsenz
28. Mai 2020, von Prof. Dr. Gabi Reinmann
Foto: UHH/HUL
Wenige Wochen vor Semesterstart wurde bundesweit beschlossen, dass das Sommersemester 2020 aufgrund der Covid-19-Pandemie ausschließlich mit digitalen Lehrangeboten bestritten werden kann. Dies stellt Lehrende wie unterstützende Einrichtungen vor große Herausforderungen. Ein Beitrag von Prof. Dr. Gabi Reinmann, Wissenschaftliche Leiterin am Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL).
In vielen anderen Nationen dieser Welt ist die Situation ähnlich oder gleich: Hochschullehrende sind unter hohem Druck, innerhalb kürzester Zeit und ohne nennenswerte Unterstützung digitale Lehrangebote bereitzustellen, denn: Natürlich sind trotz aller Bemühungen – auch an der Universität Hamburg – die Support-Maßnahmen für Lehrende nicht linear zum Bedarf von heute auf morgen mitgewachsen. Schnelle Lösungen müssen her unter nicht eben idealen Bedingungen. Für Studierende, Lehrende und Personen in Fakultäten und an zentralen Einrichtungen, die Hochschullehrende technisch und didaktisch unterstützen, gilt gleichermaßen, dass bisherige Routinen sowie der koordinierende physische Raum wegbrechen und vertraute Orientierungen ebenso wie ausreichende Ressourcen fehlen.
Diese krisenbedingte Form der „Digitalisierung in der Hochschullehre“ muss deutlich von einer systematischen und langfristigen Planung, Entwicklung und Durchführung von Online-Lehre unterschieden werden, wie man sie etwa im Rahmen berufsbegleitender Studiengänge, an Fernuniversitäten oder als internationale Angebote mit verteilten Zielgruppen kennt und antrifft. Hodges, Moore, Lockee, Trust und Bond (2020) bezeichnen die aktuelle Ad-hoc-Digitalisierung von Lehre als „Emergency Remote Teaching“ im Unterschied zu „Online Learning“ im Sinne planmäßiger professioneller Online-Lehre – eine treffende Bezeichnung, um den Notfallcharakter deutlich zu machen, der mehrere Implikationen hat:
Erstens: Was jetzt unter Zeitdruck im Zuge einer Ad-hoc-Digitalisierung entsteht, darf nicht als Indikator dafür gelten, wie digitale Lehrangebote an der Hochschullehre generell aussehen könnten oder sollten, denn: Die Bedingungen, unter denen alle Lehrenden derzeit digitale Lehrangebote produzieren, sind alles andere als ideal und unterscheiden sich deutlich von den an sich erforderlichen Voraussetzungen für die Planung, Konzeption und vor allem auch Erprobung von Online-Lehre, bevor sie in die Breite ausgerollt wird. Was sich jetzt an Lehren und Lernen ganz ohne physische Präsenz beobachten lässt, kann nicht die Qualität haben, die prinzipiell erreichbar ist, wenn ausreichend Planung, Expertise und Unterstützung verfügbar sind.
Zweitens: Wie jetzt unter den besonderen Bedingungen an der Hochschule in digitalen Räumen gelehrt und gelernt wird, sollte nicht mit den gleichen Maßstäben beurteilt werden wie Präsenzlehre oder langfristig geplante und unterstützte Online-Lehre. Dies würde im besten Fall keine brauchbaren Informationen liefern, weil ohnehin klar ist, dass man von idealen Angeboten mehr oder weniger weit entfernt ist. Im schlimmsten Fall würde man Lehrende diskreditieren, die ihr Bestes geben, um die Hochschullehre derzeit überhaupt aufrechtzuerhalten. Was also jetzt an Lehren und Lernen ganz ohne physische Präsenz praktiziert wird, ist einzigartig und kann nur unter Berücksichtigung dieser Einzigartigkeit angemessen bewertet werden.
Drittens: Didaktische Szenarien mit Notfallcharakter, die innerhalb der skizzierten Einschränkungen jetzt entstehen, müssen nicht zwangsläufig von minderer Qualität sein. Not kann bekanntermaßen erfinderisch machen. Auch mit wenigen Mitteln sind kreative und effektive Szenarien im digitalen Raum möglich: Nicht alles, was einfach ist, muss schlecht sein, und nicht alles, was man (etwas Erfahrung vorausgesetzt) intuitiv entscheidet, muss sich am Ende als falsch herausstellen. Wie also jetzt ganz ohne physische Präsenz gelehrt und gelernt wird, lohnt einen genauen und prüfenden Blick: Was lehrt uns das Emergency Remote Teaching? Was davon ist auch für die Zeit nach der Krise in Verbindung mit Präsenzlehre sinnvoll?